Generalluftzeugmeister Erhard Milch über die Messerschmitt Me 262 am 23. Mai 1944: „Mein Führer, das sieht doch jedes Kind, dass das kein Bomber, sondern ein Jäger ist!“
Am Morgen des 18. Juli 1942 hebt der erste Messerschmitt Me 262-Düsenjäger von der Startbahn des Flugplatzes Leipheim ab, welcher allein mit Hilfe seiner revolutionären neuen Jet-Triebwerke fliegt. Er wird gesteuert durch Flugkapitän Fritz Wendel. Es ist kennzeichnend für die Eigenwilligkeit in der Entscheidungshierarchie des Reichsluftfahrtministeriums, dass Adolf Galland, der in seiner Eigenschaft als General der Jagdflieger verantwortlich ist für Planung und Direktiven künftiger Jägeroperationen, bis Anfang 1942 noch nicht einmal etwas von dieser bahnbrechenden Entwicklung weiß. Und selbst dann wird er nur schleppend informiert über die Fortschritte, bis er schließlich am 22. Mai 1943 den vierten Prototyp selber fliegt. Die Worte, die er tief beeindruckt nach diesem Flug sagt, sind inzwischen Legende: „Es ist, als wenn ein Engel schiebt!“.
Galland ist derartig begeistert vom Potential der Messerschmitt Me 262, dass er vehement vorschlägt, die Produktion der Messerschmitt Bf 109 einzustellen, damit sich Messerschmitt voll und ganz auf die Herstellung des neuen Modells konzentrieren könne. Zunächst überzeugt er Generalfeldmarschall Erhard Milch, der in seiner Funktion als Generalluftzeugmeister der eigentliche technische Entwicklungsleiter und Organisator der Rüstungsproduktion der Luftwaffe ist. Dann fährt er zu Göring, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe. Sein Bericht endet:
„Diese fast unglaubliche technische Überlegenheit ist das Mittel, das den Kampf um die Luftüberlegenheit über dem Reich und später auch an den Fronten trotz eigener zahlenmäßiger Unterlegenheit zu unseren Gunsten zu entscheiden in der Lage sein wird. Keine Anstrengung und kein Risiko darf gescheut werden, um sofort die Serie vorzubereiten und die Produktion so schnell wie möglich anlaufen zu lassen. Anstelle einer Messerschmitt Me 262 können wir in der Luftverteidigung auf zwei bis drei Me 109 verzichten, wenn dies produktionsmäßig notwendig sein müsste.“
Statt also das Flugzeug, wie bisher in der deutschen Luftrüstung üblich, zuallererst ausgiebig zu prüfen, von seinen Kinderkrankheiten zu befreien und dann in die Serienfertigung zu geben, dringt Galland darauf, die ersten 100 Exemplare im Einsatz zu testen und auszufeilen. Mag dies auch riskant sein und vielleicht vermeidbare Opfer durch Unfälle fordern – ein Verzicht auf schnelle Massenfertigung käme seine Jägerpiloten durch die dann unvermindert anhaltenden derzeitigen Verluste im Luftkampf bei technischer wie zahlenmäßiger Unterlegenheit wesentlich teurer zu stehen!
Reichsmarschall Göring ist von Gallands Enthusiasmus beeindruckt und verspricht, die nötige Freigabe für die Massenproduktion des Düsenjägers zu erwirken. Denn der Form halber muss er sich diese Erlaubnis einholen. In Kenntnis der Luftlage hat Galland keine Zweifel an einem positiven Ergebnis. Doch ein Mann in Deutschland ist felsenfest davon überzeugt, mit seinem „Feldherrengenie“ jegliches militärische Fachwissen zu übertrumpfen. Ein Wissen, welches er sich zwar teilweise tatsächlich mit bemerkenswerter Detailkenntnis erworben hat, doch dennoch so subjektiv und aus zunehmend irrationalem Wunschdenken heraus anwendet, dass er es in seiner Gesamtsicht völlig überschätzt. Und zu jener Zeit ist in Deutschland dieses Mannes Wort Gesetz.
Adolf Hitler weist aus dem Stand heraus alle Ansinnen einer Serienproduktion zurück und verbittet sich jede übermäßige Eile. Der „Führer“ wird zunehmend besessener von dem Wunsch nach Vergeltung. Für ihn ist die Fähigkeit zum Zurückschlagen viel wichtiger, als seine Luftwaffe mit einem Jagdflugzeug auszurüsten, das in der Lage ist, den Luftraum des Reiches effektiv gegen die immer heftiger werdenden alliierten Bombenangriffe zu schützen. Schon imFebruar 1943 hatte er verfügt, dass jeder neue Jäger, der produziert würde, auch in vollem Umfang als Jagdbomber einsetzbar sein müsse. Hitler hält nichts von Verteidigung, Angriff ist die Devise. Mit Panzern und Bomben …
Als Hitler dann am 26. November 1943 die Fähigkeiten des neuen Düsenjägers vorgeführt bekommt, stellt er an Hermann Göring unvermittelt – doch nicht gerade überraschend – die wohl unvermeidliche Frage: „Kann dieses Flugzeug Bomben tragen?“.
Göring lässt Willy Messerschmitt antworten. „Jawohl, mein Führer, im Prinzip ja.“
Das wollte Hitler hören. „Das ist endlich der ‚Blitzbomber’! Daran hat natürlich niemand von Ihnen gedacht!“
Was Hitler betrifft, ist die Angelegenheit damit erledigt. Er erwartet, dass seine Wünsche ausgeführt und die Me262 für ihre Rolle als „Vergeltungs-Blitzbomber“ modifiziert würde. Eine Rolle, für die dieses Flugzeug vollkommen ungeeignet ist. Durch die Bombenlast verliert die Messerschmitt Me 262 ihren entscheidenden Geschwindigkeitsvorteil komplett und ist in der Luft somit wieder angreifbar. Und selbst mit Bomben an Bord ist sie für einen gezielten Bombenabwurf noch viel zu schnell, zumal der Pilot direkt über den Tragflächen sitzt und aus größerer Flughöhe praktisch keine Sicht auf Bodenziele hat. Geht er aber zum Bahnneigungsflug oder gar Sturzflug über, so ist im Nu die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Der Jet ist dann nicht mehr steuerbar – irgendwann zerreißen die Tragflächen. Und im Tiefflug könnte man gleich einen Tankwagen hinter dem „Düsenjägerbomber“ hinterher ziehen, so viel wertvollen und zunehmend knapperen Sprit verbraucht das Flugzeug dann …
Generalluftzeugmeister Erhard Milch verliert nach einer donnernden Rüge von Adolf Hitler die Nerven – und danach seinen Posten …
Nichts benötigt die Luftwaffe zu diesem Zeitpunkt dringender als ein überlegenes Jagdflugzeug, mit welchem sie in der Lage wäre, die verlorene Luftherrschaft über Deutschland zurückzugewinnen. Die deutschen Kolbenmotorjäger kämpfen verzweifelte Luftschlachten gegen eine örtlich oft zwanzigfache, insgesamt noch größere Übermacht, und dies zudem mit Piloten, welche immer unzureichender im Schnellverfahren ausgebildet werden, da es mehr und mehr an Fluglehrern und Flugbenzin für die Ausbildungsflüge mangelt. Sie kämpfen verbissen, aber viele überleben nicht einmal den ersten Einsatz. Die erfahreneren Piloten fliegen unermüdlich – doch es werden immer weniger.
Und da ist es – ein Jagdflugzeug, in 6.000 Metern Höhe fantastische 870 km/h schnell und damit 150 km/h schneller als der schnellste alliierte Jäger, enorm schwer bewaffnet und in der Lage, einem selbst in Übermacht angreifenden Gegner einfach davonzufliegen. Ein Feuerstoß aus den vier 30-mm-Kanonen kann die Tragfläche einer viermotorigen Boeing B-17 komplett durchtrennen, und jede einzelne der (später verfügbaren) 24 R4M-Raketen einer Me 262 kann jedes Feindflugzeug mit einem einzigen Treffer zerstören. Eine Salve dieser Raketen – hineingefeuert in den Bomberpulk, deren Maschinen meistens dicht an dicht fliegen, um ihr Abwehrfeuer zu massieren – hat einen absolut verheerenden Effekt. Die zerstörerische Wirkung übertrifft alle Erwartungen.
Da steht sie – zweckentfremdet als Bomber! Die Kampfgeschwader müssen unfreiwillig Bomberpiloten auf die Me 262 umschulen, mühsam die komplexe Logistik aufbauen und aufwändig Betonstartbahnen in Frankreich bauen. Um die Invasion abzuschlagen! Als die Invasion dann stattfindet, ist kein einziger „Blitzbomber“ einsatzbereit. Als die Startbahnen schließlich fertig sind, werden sie vom Feind erobert. Und die Bomberpiloten können – völlig ungeübt in jeglicher Luftkampftaktik am Steuer eines eigentlichen Jagdflugzeuges – die Fähigkeit ihres neuen fliegenden Untersatzes oft so schwer nützen, dass unter den Verlusten im Luftkampf ein Großteil den Jagdbomberversionen der Messerschmitt Me 262 zuzuordnen ist.
Erst am 4. November 1944 gibt Hitler schließlich unter dem Druck der Ereignisse die volle Produktion der Messerschmitt Me 262 als Jagdflugzeug frei. Nun ist es zu spät. Ob allerdings die etwa 60 bisher an die Kampfflieger ausgelieferten Me 262 das Blatt hätten wenden können, wenn sie von Anbeginn den Jagdgeschwadern übergeben worden wären, muss nun doch bezweifelt werden.
Feindjäger beherrschen inzwischen den Himmel über einer Trümmerwüste. Sie wissen genau um die wenigen langen und betonierten Startbahnen, welche der Luftwaffe noch als geeignete Landeplätze für die Düsenjäger verbleiben. Denn diese können im Gegensatz zu Kolbenmotorjägern nicht auf einer unscheinbaren und daher auch als Piste nicht erkennbaren flachen Wiese starten und landen. Wenn sie einmal in der Luft sind, sind die Me 262 fast unangreifbar. Doch bei Start und Landung sind sie verletzlich.
Allmählich lernen die amerikanischen und britischen Stäbe dieses neue deutsche Flugzeug zu fürchten. Was die Royal Air Force jahrelang mit ihren überwiegend aus Holz gebauten, entsprechend leichten und trotz herkömmlichen Kolbenmotoren daher sehr schnellen de Havilland „Mosquito“ Aufklärern, Nachtjägern und Schnellbombern vorexerziert hatte, machen ihnen nun die deutschen Jetpiloten nach. Die Besatzung einer Mosquito konnte einer deutschen Messerschmitt Bf 109 G-6 oder Focke-Wulf 190 A-8 mit einiger Leichtigkeit entkommen, indem sie einfach Vollgas gab. Die deutschen Jägerpiloten hatten zähneknirschend wörtlich genommen das „Nachsehen“. Doch damit ist es nun gründlich vorbei. Auf deutscher Seite löst dies ein letztes Mal Genugtuung aus – auf alliierter Seite Bestürzung.
Die Düsenjäger werden zu einer ernsten Bedrohung. Auch in Bezug auf die amerikanischen Bomberformationen.
Da die Alliierten vorhersehen können, wann in etwa die „Turbos“ aufsteigen müssen, um einen in Reichweite kommenden Bomberstrom abzufangen, kreisen sie zu diesem Zeitpunkt mit einer Jägervorhut bereits über dem Platz und lauern auf den Start der gefährlichen Düsenjäger. Daher sind die Basen der Düsenjets mit deutschen Flugabwehr-Schnellfeuerkanonen gespickt. Dem versuchen die Deutschen zudem zu begegnen, indem sie ihrerseits die modernsten Kolbenmotorjäger, die sie haben (Focke-Wulf 190 D-9 „Langnase“), einsetzen, um die alliierten Abfangjäger über den Flugplätzen der Jets in Luftkämpfe zu verwickeln und von den „Turbos“ abzuhalten. In diesen Hexenkessel direkt über ihren Köpfen hinein starten die Me 262-Piloten, höchst gefährdet, bis sie Höhe und Geschwindigkeit genug gewonnen haben. Und wenn sie – ähnlich wie beim Start in vorhersehbarer Flugbahn und ohne Möglichkeit eines Ausweichmanövers – zum Landeanflug einschweben, können sie nicht sicher sein, ob die Ablösung der Alliierten nicht schon auf sie wartet …
In dieser Phase, bei Start und Landung, werden viele Messerschmitt Me 262 abgeschossen. Und dennoch schafft es eine Handvoll an Piloten, mit diesem Flugzeug im letzten Kriegsjahrerstaunliche Abschusserfolge zu erzielen, in legendären Einheiten wie dem JV 44, JG 7 oder dem NJG 11.
General der Jagdflieger Adolf Galland, der glühendste Verfechter der Massenproduktion der Me 262 als ausschließlichem deutschen Abfangjäger, sagt nach dem Krieg:
„Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit nur 300 Messerschmitt Me 262-Düsenjägern an jedem einzelnen Tag mindestens 200 Bomber hätten abschießen können. Wenn dies eine Woche oder zwei Wochen lang so angehalten hätte, hätte man die Bombardierungen Deutschlands bei Tage aufgeben müssen.
Dies hätte dazu geführt, dass die immensen Zerstörungen der Ziele in Deutschland minimiert worden wären. Doch als negative Konsequenz hätte dies den Krieg verlängert und den Russen mehr Zeit gegeben, weitere Teile Deutschlands zu erobern. So sollten wir aus heutiger Sicht froh sein über Hitlers Fehler in Bezug auf die legendäre Messerschmitt Me 262.“